Der gesprengte Maßstab

Venedig im letzten Herbst.

Ich habe mich tapfer durch die von Menschenmassen verstopften Gassen bis zumMarkusplatz durchgekämpft und stehe nun auf der Piazetta, dem kleinen Platz am Meer, rechts der Campanile, links der Dogenpalast - und traue meinen Augen nicht:

Dort, wo ich die Insel San Giorgio suche, erblicke ich, bedrohlich dicht an den Dogenpalast herangerückt, ein weißes, 14-stöckiges Hochhaus, das mich an die schrecklichen Wohnburgen Bratislavas erinnert, nur dass es weiß ist und…….sich ganz langsam bewegt. Ein Koloss aus Stahl und Glas, voll beladen mit tausenden Passagieren verweist durch seine, an dieser Stelle Venedigs nicht vermutete einschüchterne Größe den dagegen klein wirkenden Dogenpalst in sein optische Unzulänglichkeit, er blickt spöttisch herab auf ihn, fast möchte man meinen, der Riese verhöhnt den stolzen Palast.

Das Kreuzfahrtschiff schiebt sich träge an der historischen Kulisse der Lagunenstadt vorbei. Aus hunderten Balkonen und Fensteröffnungen reckt eine bunte Menschenmasse ihre Köpfe heraus, um eifrig winkend im Vorbeifahren Venedig zu erleben, um dann zu Hause in Iowa oder Texas sagen zu können, dass man Venedig gesehen hätte, im alten Europa, dort im Osten.

Nach einer Viertelstunde ist der Spuk vorbei und draußen vor dem Lido lässt die Weite des Meeres dieses schwimmende Ungeheuer zu einem kläglich geschrumpften Punkt am Horizont werden.

Warum ist ein sensibler Mensch froh, dass der Luxusdampfer wieder abgedampft ist?

Es ist die Sprengung des Maßstabes, die irritiert. Der Kontrast zwischen dem historischen Ensemble, das eine relative homogene Struktur aufweist und dem fragwürdigen Produkt technischer Machbarkeit, das auf das Gewohnte bedrohlich wirkt, ist ungewohnt, ja optisch schmerzhaft.

Würde sich dasselbe Schiff an der Silhouette von New York oder Hongkong vorbei bewegen, hätten wir wahrscheinlich einen anderen Eindruck. Dort würde der Luxusliner “ in seine Umgebung besser „hineinpassen“, denn dort ist die Struktur der Bauten auch im Maßstab eine andere. ( Wolkenkratzer schauen dort auf das Schiff herunter, nicht umgekehrt)

Maßstab hat etwas mit Größenvergleich zu tun. Für ein Kleinkind ist ein Bernhardiner ein gleich großes Tier und daher riesig, für einen Elefanten ist ein Bernhardiner ein kleiner Lebensgenosse. Maßstab hat mit Relationen, also mit (masslichen) Beziehungen zu tun.

Gerade an Venedig sieht man, was städtebauliche Harmonie sein kann, obwohl die Stadt alle Stile seit seiner Gründung herzeigt, man hat immer modern gebaut, ob in der Gotik, der Renaissance oder später. Man hat bauliche Dominante errichtet, um Macht und Bedeutung zu signalisieren, Palazzi, Kirchen, Bibliotheken, ja selbst das Arsenal, zu seiner Blüte angeblich weltweit die größte Werfanlage, tanzte nicht aus der Reihe, wenn es galt, den Maßstab der Stadt zu wahren.

Es ist halt alles relativ.

Artikel in ‚Der Schaukasten’ Februar 2012