Leseprobe aus Kapitel 17

Der Aktenordner mit der roten Aufschrift Kindergarten Ackersfelden lag in Reichweite vor ihm.

Anselm  legte den schweren, dolchartigen   Brieföffner, den ihm Martha zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte, zu Seite und entnahm dem Kuvert das Schreiben.

„Sehr geehrter Herr Architekt, bezugnehmend auf ihre Anfrage betreffend weiterer Vorgangsweise beim Projekt Kindergarten Ackersfelden teilt ihnen die Marktgemeinde Ackersfelden mit, dass das Projekt infolge unvorhergesehener Ausgaben bei der Sanierung der Volksschule bis auf weiteres zurückgestellt werden muss.

Mit der Bitte um Kenntnisnahme
Der Bürgermeister“

Der Blutdruck stieg und Anselm ergriff den Brieföffner. Mit voller Wucht stieß er ihn durch den Aktendeckel des Kindergartenordners und spießte diesen an der Tischplatte auf.
Dann sprang  er auf, gab seinem Stuhl einen Tritt, sodass dieser krachend gegen die Tür zum Besprechungszimmer stieß und begann  im Zimmer auf und ab zu rennen, während er mehrmals halblaut  den Bürgermeister ein blödes Arschloch nannte.

Es war jetzt der dritte gewonnene Wettbewerb innerhalb eines Jahres, der nicht zur Realisierung  gelangte. Die Auslober wussten nicht, was sie wollten, oder sie wollten etwas Büro ging, wozu er die letzten beiden Jahre keinen Urlaub gemacht hatte, wozu er sich noch was sie nicht konnten .Wo waren die Siebziger oder Achtzigerjahre, als die Gewinner von Wettbewerben auch bauen durften. Der gewonnen hatte, der hatte  auch gebaut.
Anselm war wütend und deprimiert zugleich. Wenn das so weiterging, musste er zwei seiner Mitarbeiter kündigen. Er fragte sich, wozu er  überhaupt noch arbeitete, wozu er jeden Tag in sein Büro ging, sich an Wettbewerben beteiligte. Er fragte sich auch, wie  Kollegen existieren konnten, die sich für Gratisentwürfe gewinnen ließen, einfach auf Zuruf eines bauernschlauen Landbürgermeisters hin, einfach so, zum Gaudium, als Zeitvertreib, als Jux. Man sollte sie mit dem kurzen Querholz  der ausgedienten Reißschiene ganz langsam zu Tode martern, ihnen so lange auf den Kopf hämmern, bis die Schädeldecke zu krachen beginne, wünschte er sich. Dabei zog eine bemerkenswert lange Reihe Kollegen mit zertrümmerten Köpfen an ihm vorbei, so steigerte er sich in dieses Thema hinein.
Nur langsam beruhigte er sich und hob den umgetretenen Bürostuhl auf, stellte ihn hinter seinen Arbeitstisch und ließ sich hineinfallen. Er atmete noch immer schwer. Dann stützte er seine Arme auf und vergrub sein Gesicht in den Handflächen .Die beiden Zeigefingern rieben seine Augenlider. Martha war seit zwei Tagen auf einem Kongress irgendwo in der Schweiz, auf Einladung einer Pharmafirma. Gott sei Dank brachte wenigstens sie das nötige Geld ins Haus. Er überlegte, ob er auf sie eifersüchtig war, kam aber zu der Erkenntnis, dass ihm diese Art von Reisen bald auf die Nerven gehen würde.

Nachdem er eine Weile in dieser Stellung verharrt hatte, fing er an, Strichmännchen auf den Ordner des Kindergartenprojektes zu zeichnen. Er hatte  gerade eine ganze Armee solcher  kleinen  Männchen mit Steirerhüten auf den Köpfen und Weingläsern in den Händen   hingekritzelt, frei nach Gustav Peichl, der in seinen trefflichen Karikaturen den typischen Österreicher immer mit Steirerhut und Weinglas darstellt, als sein Handy unter lautem Gesurre auf der Tischplatte zu kreisen begann.

Gretas Akzent ließ seine Stimmung umschlagen.

„Hast du am Wochenende für einen Ausflug nach Venedig Zeit? Eine Kollegin, die beim Wiederaufbau des Fenices mitgearbeitet hat, hat mir eine Einladung zum Eröffnungskonzert geschickt und zugleich einen Hotelgutschein samt Bahntickets für zwei Personen beigelegt. Du wärst eine echte Alternative zu Ingrid Bertram.“ Heiteres Gelächter folgte. Anselm brachte vor Überraschung kein Wort heraus. Eben noch war er bei Martha in der Schweiz, jetzt sah er sich mit Greta in Venedig über den Markusplatz schlendern …