Leseprobe aus Kapitel 26

Der Würstelmann öffnete die fettverschmierte, verglaste Tür des Leberkäsbehälters, schob dann die Tasse samt Leberkäsziegel heraus, stelle sie vor sich auf die Arbeitfläche, und schnitt mit einem riesigen Messer, das er zuerst in seiner nach der Waschmaschine schreienden Schürze abgewischt hatte, einen beachtliche Keil ab, den er mit einer zweizackigen Gabel auf die Waage warf, nachdem er ein Stück Papier darunter gebreitet hatte. Als sich die Gabel nicht sogleich aus dem Leberkäse herausziehen ließ, hielt er mit seinen linken Zeigefinger, dessen schwarzer Nagel nur mehr zur Hälfte vorhanden war, dagegen, und zog dann die Gabel ruckartig heraus.

Da er Gretas Wunschpalette auswendig kannte, war auch die obligate Frage nach „süß oder scharf,“ den Senf betreffend, überflüssig und der Leberkäskeil, der nun auf einen Teller bugsiert und in mundgerechte Würfel zerteilt worden war, wurde unter den Senfbehälter mit der Pumpeinrichtung gehalten und reichlich mit scharfem Senf bedacht. An dieser Stelle sei angemerkt, dass in Wien der scharfe Senf gar nicht scharf ist, sondern im Unterschied zum „Süßen“ (nur?) so heißt, denn wirklich scharf ist der Englische Senf, den aber der Wiener nicht genießt ,weil er ihm zu scharf ist, der „Scharfe“ ist der ganz gewöhnliche Senf, und der sogenannte „Kremser Senf“ ist der „Süße“, aber das kann nur ein Wiener erklären, ist Anselm, wenn er einem Gast aus Budapest auseinander setzen sollte, was ein scharfer Senf  sei, überzeugt.

Dann fischte der Würstelmann mit einer, der Marktamtkontrolle sicher nicht standhaltenden fettigen Holzzange, zwei Höllenroller aus einem halbvollen, außen ziemlich verschmierten  Glas und legte diese auf einen zweiten Teller, die beiden Semmeln, die auch zu Ingrids Standardmenü gehörten, kamen sogar in einem  Plastikkörberl, dessen Design aus der Nachkriegszeit stammen musste, zu liegen, dazu gesellten sich noch zwei kleine Schokoriegel.
Ingrids Stammplatz war auf der Schmalseite des Standes, weil dieser windgeschützter und etwas intimer war. Sie räumte ihr Mahl auf das  vom Vorbenützer bröselig hinterlassene, schmierige Lümmelbrett und stürzte sich auf die Leberkäsbrocken, die sie mit einer kleinen, weißen  Plastikgabel gierig zum Mund führte, nachdem sie sie in den Senf getaucht hatte. Dann öffnete sich das Schiebefenster und der Würstelmann reichte ihr die Bockbierflasche mit dem in Goldfolie eingepackten Flaschenhals heraus.
Es war der einzige Würstelstand Wiens, an dem man auch jahrüber das Bockbier bekam, wenn man es bekam, denn nicht jeder bekam es, sondern nur ein paar Stammkunden, und Ingrid gehörte zu ihnen.
Sie kam nie auf den Gedanken, dass das Bockbier ein Ablaufdatum haben könnte und der Würstelmann vielleicht ein Kontingent abgelaufener Flaschen billig irgendwo in einem Keller eines Außenbezirks horten würde.

Sie konzentrierte sich nun vollkommen auf das in sich Hineinschaufeln der Leberkäswürfel, auf das gierige Hineinstopfen der dazugehörigen Semmelration, auf das Verschlingen der Höllenroller und auf den Genuss ihres Schokoladennachtisches.

Sie fraß wie eine Dampfmaschine, ließ sich kaum Zeit zu  kauen und rang nach Luft, als  der letzte Zipfel einer Semmel hinter ihren wulstigen Lippen verschwand. Dann setzte sie die Bockbierflasche an ihren fettglänzenden Mund und dachte an den Polier der Bankbaustelle. Auch er war ein Meister des Biertrinkens und konnte eine Maßportion nach der anderen in sich hineinleeren und trotzdem noch ihren Polierplan interpretieren.
Nun rülpste sie herzhaft, wenn auch dezent in Richtung des abseits der Hütte platzierten Abfalleimers.
Sie klopfte an das Schiebefenster, worauf sich dieses öffnete und der Würstelmann seine Würstelfinger nach ihrem leeren Teller ausstreckte und sie zum übrigen Schmutzgeschirr stapelte. Nachdem sie bezahlt hatte, hielt ihr der Würstelmann in seinen Würstelfingern eine kleine Flasche Himbeergeist entgegen, als Einladung des Hauses sozusagen, wie in  Wiener griechischen Lokalen  üblich ist, wenn man entsprechend konsumiert hatte und dann als Dankeschön einen Ouzo spendiert bekam, wenn man ein angemessenes Trinkgeld hinterlassen hatte und die Küche ausgiebig gelobt hatte.
Ingrid riss den Verschluss der kleinen Himbeergeistflasche auf und ließ den Inhalt über ihre Zunge rinnen. Dann wandte sie sich dem Mülleimer zu und hob dessen Deckel hoch, um die Flasche zu entsorgen.
Zu spät fiel ihr Blick auf Tausende sich rege ringelnde weiße Madenwürmer, die sich quicklebendig über sonnenbeschienende süßlich riechende Essensreste des Würstelstandes hermachten.

Ingrid ließ den Deckel fallen und konnte sich noch recht und schlecht am Lümmelbrett des Würstelstandes festhalten, bevor sie sich in die Ecke neben dem Abfallkübel übergeben musste.
In mehreren Schüben gab sie ihre Mahlzeit von sich. Schweißtriefend bat sie den verdatterten Würstelmann um Mineralwasser, um den sauren Schleim aus Mund und Nase abzuwaschen.

Ganz Gentleman reichte er ihr einen Packen Papierservietten, mit einem grünen Aufdruckspruch, wonach Raiffeisen Niederösterreich schön erhalten möge.

Mit leerem Magen schleppte Ingrid ihren angeschlagenen Körper nach Hause und versuchte den Serviettenspruch nachzuvollziehen. Warum sollte Raiffeisen Niederösterreich schön erhalten?